Was würde Bertha Benz über den Weltklimagipfel denken? Was hat die Gründung Europas ältester Bank mit sozialer Teilhabe zu tun und wie wurde das Geschäft mit Lumpen durch eine Innovation hinweggefegt? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Antworten auf diese Fragen werden zeigen, dass gerade Innovation beim Thema Nachhaltigkeit keine Frage der Moderne ist und dass wir nicht hinter bereits Erlerntes zurückfallen, aber auch den Sinn für das Mögliche stärker schulen sollten.
Meine erste These: Würde Bertha Benz uns heute sehen, würde sie nur verständnislos den Kopf schütteln. Schon 1888 war klar, dass der Verbrennungsmotor die Luft verpestet und viel zu viel Lärm macht. Folgerichtig hatte noch im gleichen Jahr die Maschinenfabrik A. Flocken in Coburg ein Elektrofahrzeug auf den Markt gebracht. Natürlich schlug Berthas Herz ein Leben lang für den Verbrennungsmotor ihres Mannes. Aber dass die Nachwelt es in anderthalb Jahrhunderten nicht schaffen würden, dessen zerstörende Folgen für Umwelt und Klima in den Griff zu bekommen, das würde sie nicht verstehen.
Was würde sie wohl über den Klimagipfel in Glasgow denken? Nun, das kann man natürlich nicht wissen, aber spekulieren darf ich: Bertha, die ihr ganzes Leben dem Fortschritt verschrieben hatte, wäre gnadenlos enttäuscht:
- über das verzweifelte Festhalten am Ist-Zustand
- über das viele „gemach, gemach, junge Frau!“
- über so viel Unwille zur Veränderung in der Generation ihrer Ururgroßenkel.
Zwei Jahre war es her, seit ihr Mann das Patent für seine Erfindung erhalten hatte: ein Wagen mit Verbrennungsmotor. Doch die Zeitgenossen misstrauten der neuen pferdelosen Kutsche. Nur eine eingeschränkte Fahrerlaubnis war Carl Benz genehmigt worden und das erhoffte Geschäft mit der neuen Erfindung wollte sich nicht einstellen.
Schließlich ergriff Bertha Benz die Initiative: Sie packte ihre zwei ältesten Söhne in den Benz-Patentwagen Nr. 3 und fuhr – ohne Fahrerlaubnis, ohne Wissen ihres Mannes, aber im vollen Vertrauen auf die Zukunft – einfach los, auf zum Sonntagskaffee bei ihren Eltern. Nach 13 Stunden Fahrt mit dem dreirädrigen Gefährt, etlichen Pannen und improvisierten Reparaturen waren die 106 Kilometer nach Pforzheim geschafft.
Bis heute gilt dieses Abenteuer als Pionierfahrt auf dem Weg ins Automobilzeitalter. Bertha Benz hat nicht einfach das gemacht, was ihre Rolle war, sondern das Mögliche versucht und damit Weltgeschichte geschrieben. Sie wagte absolut Neues. Sie wusste ganz genau, dass sich der Wind nicht ändern lässt, aber die Segel neu gesetzt werden können.
Den eigenen
Möglichkeitssinn
schulen
Spiegeln wir das an einem aktuellen Ereignis: Im Juli 2021 legte Ursula von der Leyen die Pläne der EU für Klimaschutzzölle vor. Aus der deutschen Industrie kam der Einwand, man müsse vorsichtig sein, behutsam vorgehen:
- keine Alleingänge,
- mit Klimazöllen riskiere man neue Handelskonflikte und überhaupt brauche man eine
- Eingewöhnungszeit und eine mindestens zehnjährige Übergangsfrist für ein solch neues und unerprobtes Instrument.
Dies zeigt: Obwohl alle den dringenden Handlungsbedarf erkennen, dominiert ein chronischer Unwille zur Veränderung. In der Psychologie spricht man in diesem Fall von kognitiver Dissonanz, in der Verhaltensökonomie vom „Status Quo Bias“. Das heißt: Zwar wollen alle, dass alles immer besser wird, aber verändern darf sich bitte schön nichts.
Veränderungsfähigkeit ist eine „alte Tugend“
Ein ganz konkretes Beispiel zum Change-Management findet sich in einer Stadtgesellschaft vor über 500 Jahren. In den wirtschaftlich fortschrittlichsten Städten Italiens im 15. Jahrhundert – in Perugia, Siena, Bologna, Mailand und Florenz – kamen die Stadträte auf die Idee, Finanzinstitute für die ärmeren Bevölkerungsschichten zu gründen.
Man organisierte eine Kreditsicherung über Pfänder: Der Bauer aus dem Umland konnte im Frühjahr seinen Wintermantel als Kreditsicherung in der Bank hinterlegen. Er erhielt einen Kredit, um Saatgut zu kaufen, und konnte nach der Ernte im Herbst seinen Mantel mit einem Teil des Ertrags wieder auslösen. Der Name dieser Finanzinstitute lautete Monti di Pietà. Dazu zählte auch Monti dei Paschi in Siena; mit dem Gründungsjahr 1482 ist sie heute Europas älteste Bank. Das war kein Almosen – hier ging es um den Erhalt des sozialen Gleichgewichts, um das Ermöglichen von Marktteilhabe auf allen Ebenen, nicht nur für die Wohlhabenden, sondern auch für die, die wenig haben. Man wollte sich nicht bereichern, sondern die eigenen Versorgungsstrategien sichern. Das Motto der Stadtherren: Eine Schande, wer reich wird und dabei immer mehr Reichtum produziert. Dieses Thema wird schon von Aristoteles angesprochen. Marktteilhabe war für ihn die Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wirtschaft und Gesellschaft leben von wechselseitigem Geben und Nehmen. Erst der Austausch schafft den Zusammenhalt. Diese Idee griff Muhammed Yunus wieder auf – allerdings ein halbes Jahrtausend später und in Bangladesch. Im Jahr 2006 bekam er dafür den Friedensnobelpreis. Sein Beitrag zum Nutzen der Menschheit – so befand das Komitee – bestand in der Erfindung eines neuen Finanzinstruments. Es sei geeignet zur Herstellung dauerhaften Friedens, weil damit große Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit erhielten, aus der Armut auszubrechen.
Wie und dass dies funktionieren kann, hatte Yunus – Wirtschaftswissenschaftler mit Studium in den USA, später Professor an der Universität Chittagong in Bangladesch – der ganzen Welt vorgemacht. Und zwar mit seiner 1983 gegründeten Grameen Bank für die Ärmsten der Armen. Mit der Preisverleihung würdigte das norwegische Nobelkomitee seine Bemühungen um „die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von unten”.
„Nicht
mehr hinter
Erlerntes
zurückgehen.“
Die Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt: Wann haben wir das alles vergessen? Warum mussten wir Mikrokreditbanken nach 500 Jahren neu erfinden?
Offenbar wussten unsere Vorfahren besser, wie Change-Management geht, und besaßen damit mehr Transformationsfähigkeit als viele unserer Zeitgenoss:innen.
Was mich in der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskussion zuweilen sehr irritiert, ist diese unglaubliche Fixierung auf die Gegenwart – vor uns die Steinzeit, nach uns die Sintflut.
Es herrscht eine gegenwartsfixierte Kurzsichtigkeit statt historischen Weitblicks. Ansonsten würden wir sehen, welche unglaublichen Transformationsleistungen Menschen in den zurückliegenden Jahrhunderten nicht nur bewältigt, sondern auch aktiv gestaltet haben. Die Stadträte in Oberitalien reagierten im 15. Jahrhundert ganz offensichtlich auf Veränderungen. Auf Begleiterscheinungen von Wirtschaftswachstum und zunehmendem Wohlstand. Sie leiteten einen Transformationsprozess ein. Warum ist der Widerstand gegen Veränderung oft immer noch so groß? Transformation scheint schwierig, bereitet vielen Unbehagen. Der Status Quo Bias scheint übermächtig.
Wenn Expertenwiderstand
Transformationsprozesse bremst
Dazu eine Episode aus dem 18. Jahrhundert: Es herrschte Rohstoffknappheit bei der Papierproduktion – ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung. Papier wurde seinerzeit aus Lumpen, aus Hadern hergestellt – eines der wohl ältesten und erfolgreichsten Recyclingprodukte überhaupt. Die Suche nach alternativen Rohstoffen lief auf Hochtouren. Jakob Christian Schäffer war einer dieser Tüftler, er experimentierte mit Pappelsamen, Samenwolle, Gras, Stroh, Flechten, Pilzen, Wespennestern und Hanf … Die Reaktionen seiner Zeitgenoss:innen waren zwiespältig. Besonders die Experten der Papierproduktion waren skeptisch, reagierten mit erhobenem Zeigefinger: gemach, gemach, junger Mann!
Auch ein gewisser Georg Christoph Keferstein, angesehener Papiermüller aus Kröllwitz unweit von Halle, warnte. Er war ein Meister seines Handwerks, anerkannt und respektiert. Ein Experte! Er schrieb ein Brevier für seine 15 Söhne über die hohe Kunst der Papiermacherei, inklusive einer Warnung vor den neumodischen Erfindungen des Dilettanten Schäffer.
- Das geht nicht! Grad so wenig, wie man aus Hafer Weizen oder aus Eisen Gold machen kann, lässt sich aus Hanf Papier machen.
- Was soll das bringen? Was hat die Welt davon, wenn sie weiß, dass sich auch dürre Blätter zermalmen und zu einer Art untauglicher Makulatur verwandeln lassen?
- Wir brauchen keine Alternativen! Lumpen wird es immer geben. Solange Menschen auf dem deutschen Boden sind, so gebrauchen sie dieselben Kleider.
- Der Markt wird das schon regeln! Die Technik ist da, und Angebot und Nachfrage bestimmen, was produziert wird.
- Alles nur Panikmache! Papiermangel wird total übertrieben. Schon immer hat es Konjunkturkrisen gegeben!
- Mögen die Spinner doch erst einmal liefern. Es gäbe – so der erfahrene Unternehmer – immer lustige Köpfe, die irgendwelche verrückten Ideen hätten. Aber es solle doch bitte erst mal einer ein nützliches Werk produzieren, auf das man schreiben und drucken könne.
Als Experte sah der erfahrene Papiermacher einfach keinen Handlungsbedarf. Ähnlich wie angeblich Thomas Watson, Vorstand von IBM, nach der Entwicklung des ersten Großcomputers im Jahr 1943 den weltweiten Bedarf an solch neumodischen Geräten auf maximal fünf Geräte schätzte.
Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen? Dies liegt ganz sicher nicht daran, dass Keferstein oder Watson zu wenig wussten oder sich in ihrer Branche nicht gut genug auskannten. Es liegt vielmehr an zu viel Selbstsicherheit und sturem Vertrauen in bewährte Technologie. Diese macht zuweilen blind für aktuelle Entwicklungen und Bedürfnisse gegenwärtiger sowie künftiger Generationen. Und es liegt am mangelnden kontinuierlichen Hinterfragen und Fördern der eigenen Transformationskompetenz. Nur so können wir künftige, schwerwiegende Enttäuschungen vermeiden – nicht nur beim Weltklima. Denn es geht um unser Überleben.
Prof. Annette Kehnel ist eine sehr erfolgreiche Buchautorin – für ihr Werk „Wir konnten auch anders” wurde sie im November 2021 mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet. In dieser „Kurzen Geschichte der Nachhaltigkeit” zeigt sie, dass Recycling und Microfinance, Minimalismus und Gemeinwohl-Ökonomie keine Konzepte der Moderne sind. Diese sind bereits vor Hunderten von Jahren entworfen und realisiert worden … gingen danach aber wieder verloren. Was aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft gelernt werden kann, beschreibt die Historikerin in ihrem im Mai 2021 erschienenen Buch.
Kehnel ist seit dem Jahr 2005 Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Die 1963 geborene Wissenschaftlerin studierte von 1984 bis 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Somerville College Oxford und an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Fächer Geschichte und Biologie. Ihre Promotion erlangte sie 1995 am Trinity College Dublin mit ihrer Dissertation, welche die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung eines irischen Klosters im Mittelalter überhaupt war. Ihre Habilitation erfolgte 2004 an der TU Dresden mit einer Arbeit über die Franziskaner auf den Britischen Inseln von 13. bis zum 16. Jahrhundert.
Die Schwerpunkte ihrer heutigen Arbeit und Forschung liegen in der Historischen Anthropologie, der Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie in der Vergleichenden Ordensforschung.