Frau Blacha, Womit beginnt ein 57-tägiger Fußmarsch ganz alleine zum Südpol?
Anja Blacha: Ich habe vor einigen Jahren beschlossen, ich gehe mal trekken und habe mir ein paar Trekkingschuhe gekauft. Sie waren der erste Schritt, der mich auf die 8000er-Berge und zum Südpol geführt haben. Ich habe mich von jedem Schritt inspirieren und immer weiter tragen lassen und bin so in immer größere Schuhe hineingewachsen. Aber es ist natürlich mehr: Es ist die Offenheit, den ersten Schritt zu machen als unglaublich hilfreiches Prinzip. Man braucht ein offenes, exploratives Mindset. Ich hatte die Neugier, die Offenheit, mich darauf einzulassen.
Andere sagen dazu, das ist eine Voraussetzung für Agilität …
Ja, das gehört zu einem agilen Mindest. Aber noch mehr: Es gehört auch der Erfindungsreichtum oder die Findigkeit dazu, mit dem, was man hat, etwas zu schaffen. Nehmen Sie mich: Ich bin nicht sonderlich gross oder muskulös. Das ist ein Nachteil, wenn man einen Schlitten übers Eis der Antarktis zieht. Für mich resultierte daraus, diesen Nachteil durch bessere Planung meiner Schlittenladung auszugleichen. Die Frage ist: Was habe ich an Fähigkeiten oder Ressourcen zur Verfügung und wie kann ich diese am besten einsetzen?
Gibt es noch mehr Parallelen zu agilen Prozessen in der Wirtschaft?
Agilität bedeutet extreme Disziplin. Und Polarexpeditionen verlangen das Maximum an Disziplin. Meine Polarexpedition war in sechs Sprints eingeteilt. Sechs klare Etappen mit klaren Terrain- und Wettergegebenheiten. Jeder abgeschlossene Sprint war ein Erfolgserlebnis. Darüber hinaus mussten 57 Daily Standups bewältigt werden, richtige Standups. Und ich musste alle 24 Stunden reporten. Meine Kilometerzahl, meinen Standort, wie es mir geht. Ich war zwar nur mir gegenüber accountable, denn mir hatte niemand etwas zu sagen. Gleichwohl hat dies zusätzlichen Druck aufgebaut, was habe ich heute geschafft und was auch nicht. Denn nicht jeder Tag ist gleich …
Und das bedeutet auch, seine Zwischen-Ziele nicht zu erreichen — und dann?
Agilität bedeutet auch das Reagieren auf Veränderungen. Dann irgendwie kommt doch immer alles anders. Dann musste ich mir überlegen, ob ich Überstunden mache. Mache ich eher Überstunden an den guten Tagen oder mache ich das an den schlechten Tagen — bekannt auch als das Taxifahrerproblem: Wenn ich mein Tagessoll an schlechten Tagen nicht erreiche, mache ich weiter oder nicht? Oder: Wenn ich an guten Tagen über der Zielmarke bin — höre ich auf oder mache ich weiter. Ich kann Ihnen sagen: Es ist besser, an den schlechten Tagen sich einfach mal zu sagen, das wird heute nichts, das muss ich an den guten Tagen aufholen.
Bei den Taxifahrern ist das Limit irgendwann die tiefe Nacht; im südpolaren Winter war es ja rund um die Uhr hell …
Ja, aber Laufen bis zum Umfallen ist nicht nachhaltig. 57 Tage nonstop Top-Performance liefern ist nicht nachhaltig, wenn man es nicht schafft, ausreichend Pausen zur Regeneration einzubauen. Ich hatte meine Tage in Intervalle eingeteilt, unterbrochen von zumeist Fünf-Minuten-Pausen. Aufgeteilt auf 57 Tage ist das wahnsinnig viel Zeit, aber notwendig.
Auf Clausewitz bzw. Moltke geht der Satz zurück , dass der beste Plan, die erste Feindberührung nicht übersteht. Inwiefern traf das auf Ihre Planung zu?
Die Realität folgt nicht den Excel-Sheets. Oder: Irgendwie kommt doch immer alles anders. Dazu gehören auch die Planabweichungen, von denen man weiß, dass sie kommen, aber von denen man hofft, dass sie einem erspart bleiben. Ich wusste, dass mich schlechtes Wetter aufhalten kann, aber doch nicht gleich am Anfang und für so viele Tage. Schließlich hatte ich nur ein begrenztes Zeitfenster, das mir der südpolare Sommer und die eingeplanten Ressourcen boten.
Sie sind zum Südpol gelaufen, aber es gibt auch die Rückkehr: Konnten Sie sich wieder auf den Alltag einlassen?
Vorab war für mich die Erkenntnis wichtig, dass ich entbehrlich bin. Ich kann meinen Mitarbeitern vertrauen, dass sie ohne mich klarkommen. Und so konnte ich mich ruhigen Gewissens überhaupt auf diese Tour begeben. Dann bin ich zurückgekommen und hatte die Erkenntnis, dass ich auch vieles weglassen kann. Brauche ich all die verschiedenen Dinge und Gewohnheiten? Hole ich die zurück oder lasse ich die draußen aus meinem Leben, weil sie nicht wertstiftend sind?